Die 15-Minuten-Stadt – Bauwelt Kongress 2022

Herrliches Frühlingswetter empfing die Gäste des Bauwelt-Kongresses am 12. und 13. Mai im Kino International. Berlin zeigte sich von seiner besten Seite, um über die 15-Minuten-Stadt als diesjäh­riges Kongressthema zu reden. Wie lässt sich die Theorie einer Stadt der kurzen Wege überzeugend in die gebaute Umwelt überführen?

Text: Stumm, Alexander, Berlin

Bei den Vorträgen ging es von Anfang an heiß her. Carlos Moreno, konzeptueller Vordenker der 15-Minuten-Stadt und Ratgeber für die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo bei der Transformation der französischen Hauptstadt, griff die Hitzewelle in Indien und Pakistan auf, die zur gleichen Zeit zu Rekordtemperaturen von über 40 Grad führte. Die Klimakrise ist kein abstraktes Hochrechnungsmodell mehr, sondern greift in die Leben der Menschen direkt ein. Dafür brauchen wir eine Architektur- und Stadttheorie, die zugleich das Leben der Menschen betrifft und konkrete Lösungsvorschläge bietet. Das trifft auf kongeniale, weil einfach nachzuvollziehen­-de Art auf Morenos Konzept zu: Es ist die Vision einer fußgänger- und fahrradfreundlichen Stadt mit vielen dezentral-durchmischten Knotenpunkten, in der alle im Alltag wichtigen Anlaufstellen für jede und jeden in 15 Minuten erreichbar sind.

Diese Ideen griff der Stadtbaumeister von Brüssel Kristiaan Borret auf und zeigte, wie in Belgien stadträumliche Projekte zur Lebensqua­lität und Teilhabe beitragen. Der Bouwmeester, eine aus den Niederlanden übernommene Tradition, füllt eine besondere Funktion aus. Als unabhängige Schnittstelle zwischen praktizierenden Architektinnen und Architekten, der Stadtverwaltung und Investoren ist er vor allem für eines zuständig: die Durchsetzung von Qualität im konkreten Projekt. Borrets Credo: „The Next Big Thing will be a lot of Small Things”.

An dieser Stelle widersprach Philipp Misselwitz vom Bauhaus der Erde als dritter Keynote-Speaker: Anstatt auf partizipative, und damit notwendigerweise kleinteilige Formate zu setzen, bedürfe es eines großen, systemischen Umbaus der Baubranche. Dafür werden Top-down-Maßnahmen unumgänglich sein. Misselwitz schwebt eine Architektur vor, die auf nachwachsende Rohstoffe und zirkuläre Ansätze setzt, die Material- und Stoffkreisläufe der umgebenden „Bioregion“ mitdenkt.

Wie kann sich die Stadt der Moderne mit ihrer Funktionstrennung und ihren großen Infrastrukturen zur nachhaltigen Stadt der Zukunft weiterentwickeln? Nicola Borgmann, Direktorin der Architekturgalerie München, und Susanne Grillmeier, Stadtplanerin und Projektverantwortliche für die Sanierung in Neuperlach, präsentierten dafür „Creating NEBourhoods Together“. Sie stellten die Potenziale der in den 1960er und 70er Jahren entstandenen Großsiedlung Neuperlach im Süden von München dar. Als lebendiges, gut durchmischtes Viertel bedarf es weniger eines groß angelegten Umbaus als vielmehr der gezielten Intervention an städtebaulichen Schwachstellen. Die Initiative ist jüngst mit einer Förderung als Leuchtturmprojekt des Neuen Europäischen Bauhauses für eine mehrjährige Entwicklung ausgestattet worden.

Weiterbauen im Bestand ist Prämisse auch für Sabine Müller von SMAQ Architektur und Stadt und Anna Lundqvist von Man Made Land. Im Modellprojekt Dragonerareal in Berlin-Kreuzberg soll die Idee eines offenen Quartiers im Sinne der 15-Minuten-Stadt Realität werden. Sowohl in München als auch in Berlin werden die Bedarfe in Zusammenarbeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern eruiert, um eine nachhaltige Entwicklung der Quartiere zu gewährleisten.

Samir Bantal, Direktor von AMO, hinterfragte ausgehend von seinem Forschungsprojekt „Countryside“ die zwiespältige Auseinandersetzung mit dem, was wir als „Land“ bezeichnen.
Einerseits Objekt der Begierde einer urbanen Gesellschaft, entfernt sich die Strukturierung der Landschaften andererseits immer weiter vom allseits reproduzierten Klischee der Idylle. Zunehmende Kontrolle und Überwachung von Natur und die Effizienzsteigerung von Lieferketten führten zur „Box Architecture“. In hermetisch abgeschiedenen Ställen werden Tiere für die Lebensmittelproduktion keimfrei gehalten, und Online-Händler-Logistikzentren auf der grünen Wiese arbeiten zunehmend automatisiert ohne den Eingriff des Menschen.
Ludwig Wappner beleuchtete die infrastrukturelle Dimension der 15-Minuten-Stadt. Anhand des von allmannwappner realisierten Stadtbahntunnels in Karlsruhe, eines über 17 Jahre geplanten Großprojekts (Bauwelt 4.2022), zeigte er auf, wir innovative Mobilitätskonzepte zusammen mit der ganzheitlichen Gestaltung von Infrastrukturen Attraktivität und Qualität von Stadt erhöhen können. Mitgedacht wurde in diesem Projekt auch die regionale Vernetzung des ÖPNV.

Anupama Kundoo weitete zum Abschluss den Blick wieder auf die globale Situation. Aus einer postkolonialen Perspektive heraus, konkret am Beispiel Indien, stellte sie ihre Forderungen und Wünsche für eine Architektur der Zukunft vor. Der Mythos vom Fortschritt habe uns in eine Lage geführt, in der wir die Ressourcen von meh­reren Planeten bräuchten, um den westlichen Lebensstandard überall zu implementieren. Kun- doo zufolge geht es um das Auflösen der Gegensätze: von modern und rückständig, aber auch von formalisiertem und informellen Bauen. Sie betonte die Kraft der Imagination und den Willen, Experimente zu wagen und Neues auszuprobieren, sowie die Anpassungsfähigkeit an sich rasch ändernde Umwelten.