Das Gold der Stadt – Bauwelt Kongress 2023

Bestehendes weiterbauen, Abriss und Neuversiegelung stoppen, Wohnen als Ware hinterfragen und als Gemeinwohl begreifen, Grund und Boden in kommunalem Besitz halten, die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Auf die Frage: „Was ist das Gold der Stadt?“ lieferten die Referentinnen und Referen­ten beim Bauwelt Kongress am 11. + 12. Mai 2023 im Berliner Kino International eine ganze Palette von Antworten.

Text: Stumm, Alexander, Berlin

Der Gebäudesektor muss sich auf ein Bauen in planetaren Grenzen einstellen, und das möglichst zeitnah. Annette Hillebrandt von der Universität Wuppertal verwies auf den Earth Overshoot Day, der in Deutschland am 4. Mai liegt. Zwei Drittel des Jahres lebten die Deutschen auf Pump von dem Planeten. Das führe zur Klimakrise und einem umfassenden Artensterben. Hildebrands Credo: Effizienz ist nicht effektiv genug, und Schönheit allein reicht nicht mehr. Sie sieht die Architekturschaffenden genauso wie die Politik in der Pflicht. Ein Abriss-Moratorium helfe den Bestand zu bewahren, ein Flächen-Moratorium die grassierende Neuversiegelung einzuhegen. Der Verzicht auf nicht rezyklierbare Komposit-Materialien und stattdessen die Verwendung reparierbarer und kreislauffähiger Produkte seien ebenso Teil der Lösung wie die Produktion von Solarenergie auf dem Dach sowie Fassadenbegrünung und helle Hüllflächen. Die Befreiung von den Normen und Standards mittels einer „Gebäudeklasse E“ könne hier unterstützen. Selbstkritisch hinterfragte Hillebrand beim Vortrag auch von ihr selbst verantwortete Bauprojekte und gestand, dass sie manches heute anders entscheiden würde.

Christa Reicher von der RWTH Aachen präsentierte unter dem Begriff „Wandel ohne Wachstum“ ihre Arbeit für die IBA Emscher Park 1989–99 im Ruhrgebiet als Reallabor für einen nachhaltigen Perspektivwechsel. Grundgedanke für die „ruinierten Landschaften“ der fünftgrößten Agglomeration Europas nach der Deindustrialisierung war, die Stärken – eine polyzentrale Struktur mit enger Verzahnung von gebauten und ländlichen Gebieten – bewusst zu machen und mit dem Prinzip Recycling das Vorgefundene weiterzudenken. Top Down- und Bottom Up-Planungen seien beide notwendig, um Makro- genauso wie Mikro-Utopien zu realisieren, und die „IBA als Ausnahmezustand auf Zeit“ ein probates Mittel, um Experimente zu wagen und zu lernen.

„Alle sechs Minuten verlieren wir eine Sozialbauwohnung.“ Mit dieser Rechnung starteten Sascha Zander und Christian Roth von zanderroth ihren Beitrag. Für das Architektenduo aus Berlin ist das Gold der Stadt der Boden beziehungsweise bezahlbarer Wohnraum. Die Situation in Berlin stel­le sich heute dramatisch dar. Von 390.000 Sozialbauwohnungen im Jahr 1990 sind 2022 nur 100.000 übrig, gleichzeitig erlebte die Stadt seit 1980 nach anfänglicher Abwanderung einen Zuwachs von 400.000 neuen Bewohnerinnen und Bewohnern. Die Bodenrichtwerte hatten sich von 1995 bis 2005 halbiert, von 2012 bis 2022 jedoch verzehnfacht, wodurch die Fläche eines Kfz-Parkplatzes einen Wert von 322.000 Euro habe. Heute sind 47 Prozent der Fläche Berlins im Besitz der Stadt. Statt Liegenschaften zu verkaufen, sollten sie in Erbbaupacht für hybride Nutzungen vergeben werden, in denen Genossenschaften und Bauherrengemeinschaften bei Neubauprojekten 50 Prozent Sozialwohnungen errichten, die durch die andere Hälfte Eigentumswohnungen querfinanziert werden.

Oana Bogdan von Brüsseler Büro &bogdan verdeutlichte die Situation in Belgien, wo wegen hoher Bebauungsdichte kaum noch Freiflächen vorhanden sind. In ihren eigenen Projekten stapelt sie deshalb unterschiedliche Funktionen in einem Bauwerk: zum Beispiel eine Feuerwehr und einen für die Gemeinschaft offenen Sportplatz. Wohnungsnot entstehe durch Privatisierung und finanzgetriebene Stadtentwicklung. Um diesem zu begegnen, müsse man auf Abrisse verzichten und Grund und Boden wieder als Gemeingut begreifen. Architektinnen und Architekten soll­-ten nicht Instrumente von Investoren sein, die ihr Kapital vermehren wollen, sondern verantwortungsvolle Akteure in der Gesellschaft.

Rasmus Duong-Grunnet von Gehl Architects aus Kopenhagen ist sich sicher: Das Gold der Stadt sind ihre Menschen. Eine „sanfte Stadt“ schließt ausnahmslos alle Menschen mit ein – ethnische Minderheiten, LGBTQ+, Menschen mit körperlicher Behinderung oder psychischen Pro­blemen, Obdachlose, Gehörlose und Menschen aus anderen Ländern. Es gehe in der architektonischen Praxis darum, einen differenzierten Blick darauf zu entwickeln, wie die Stadt als Raum der Zugehörigkeit funktioniert. Ein Gebäude sollte den Menschen dienen, die in ihr leben – und nicht ihren Erbauern.

Annabelle von Reutern, Head of Business Development bei concular, fordert in Anlehnung an Vittorio Magnago Lampugnani eine „Modernität des Dauerhaften“ und eine Abkehr von unserem „Hang zur Zerstörung“. Um beim Bauen die planetaren Grenzen respektieren zu können, müs­-sen Materialkreisläufe geschlossen werden. Der Rückbau von Bauteilen geht einher mit der Rückführung in Planung und Bau, wofür Lieferketten und Urban Mining Hubs aufgebaut und schließlich auch die Hersteller mehr in die Verantwortung genommen werden müssen.

Wie kann eine architektonische Praxis, die den Bestand wertschätzt und Re-Use lebt, aussehen? Axel Humpert, BHSF Architekten, Zürich, Niklas Nolsøe von Lendager, Kopenhagen, und Eric Honegger von baubüro in situ, Basel, zeigten mit aktuellen Projekten, wie es wirklich funk­tioniert und existierendes Material auf kreative Weise in das Neue integriert werden kann. Ein Aspekt stellen dabei alle drei besonders heraus: Das Bestehende an Ort und Stelle zu erhalten und durch architektonische Eingriffe für eine gegenwärtige Nutzung zu aktualisieren, ist aus material- und energietechnischer Sicht immer besser, als Bauteile an anderen Orten wiederzuverwenden. Die Maxime: nicht abreißen, was nicht abgerissen werden muss, bezieht sich dabei insbesondere auch auf Gebäude und Strukturen, die gemeinhin als ästhetisch nicht wertvoll oder gar als häss­lich angesehen werden. Projekte wie das Wohnhaus in Kakaosilos der ehemaligen Toblerone-Fabrik in Bern (Bauwelt 7.2023), das Upcycle Studio in Kopenhagen (14.2020) oder das Atelierhaus K118 in Winterthur (26.2021) mit einem Re-use-Anteil von achzig Prozent können als beispielgebend dafür gelten, wie sich aus dem konzeptuellen Ansatz neue ästhetische Formen entwickeln.