Die europäische Stadt zerfällt – in alt und neu, arm und reich, durchgeplant und planlos, angeschlossen und abgehängt. Gelingen es Architektur und Stadtplanung der nächsten Jahre, die Fragmente neu zusammenzufügen? Die Frage nach der „Ganzen Stadt“ diskutierten 16 Referenten mit rund 700 Besuchern auf dem Bauwelt-Kongress Anfang Dezember in Berlin.
Text Jan Friedrich
Naiv sei die Vorstellung, man könne mit irgendeiner Art von Übereinkunft, einer neuen Charta etwa, alle Stadtentwicklungsakteure dazu bekommen, an einem Strang zu ziehen. Viel zu unterschiedlich seien die Interessen der verschiedenen Beteiligten. Ein international in Immobilien investierender Fond etwa – man müsse das ganz klar so sagen – interessiere sich nicht die Bohne für die Stadt. Und selbst Bürgerinitiativen, so gemeinwohlorientiert sie auch daherkämen, würden Partikularinteressen vertreten. Mike Josef, Planungsdezernent von Frankfurt am Main, schreckte all jene im Publikum auf, die angesichts der drängenden Probleme, denen sich die Menschheit derzeit gegenübersieht, im Stillen vielleicht doch auf so etwas wie ein neues Harmoniegefühl in der Stadtentwicklung hoffen.
Ist nach dieser Lesart der Blick auf die „Ganze Stadt“ – die Frage, ob sich die heterogenen Stadtbausteine angesichts von Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Wohnungsfrage und künftiger Mobilität noch zu einer neuen, überzeugenden Stadtidee verbinden lassen, die die Referenten des Bauwelt-Kongresses 2019 diskutierten – schon naiv? Keinesfalls! Auch Josef stellte nicht in Abrede, dass sich Planungspolitik um die Gesamtentwicklung der Stadt, ihren räumlichen und vor allem sozialen Zusammenhalt kümmern müsse. Das gelänge aber eben nur, wenn man sich keinen falschen Vorstellungen hingebe, sondern sich bewusst sei, dass man gegensätzlich Interessenslagen austarieren müsse.
Angesichts von immer mehr globalem Kapital, das in die Städte drängt, auf der einen Seite und dem stetig wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung, jenseits formalisierter Feigenblatt-Partizipationsprozesse echten Einfluss auf die Entwicklung ihrer Städte zu nehmen, auf der anderen Seite – sind da unsere traditionellen Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen überhaupt noch funktionsfähig? Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrums Wien, stellte eine Auswahl von Fallstudien aus ihrem Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise“ vor. Sie und ihre Mit-Kuratorin Elke Krasny hatten weltweit nach Beispielen dafür gesucht, „dass sich Stadtentwicklung nicht zwangsläufig der Ausbeutung von Ressourcen unterwerfen muss“. In dieser Hinsicht erfolgreich seien Projekte, so Fitz, bei denen es gelänge, Top-Down- und Bottom-Up-Strategien zu verbinden. Das größte Zukunftsthema sei für sie deshalb: Schnittstellen zwischen oben und unten schaffen. Für Philipp Rode, Direktor des Zentrums LSE Cities und des Urban-Age-Programms an der London School of Economics and Political Science, hat die Lösung des Verkehrsproblems oberste Priorität. Sei doch die vollkommene Ausrichtung der Stadtplanung seit den 1950er Jahren auf die Bedürfnisse des Individualverkehrs hauptverantwortlich dafür, dass die Städte eine ihrer Hauptfunktionen, nämlich Erreichbarkeiten durch räumliche Nähe zu erzeugen, nicht mehr erfüllen könnten. Auch er sieht die Notwendigkeit neuer Entscheidungsstrukturen, denn unsere sektorale Verwaltung verhindere die Umsetzung einer integrierten Planung, die aber nötig wäre. Dass etwa London in den letzten Jahren mit der Lösung seiner Verkehrsprobleme ein gutes Stück vorangekommen ist, sei nur möglich gewesen, weil mit „Transport London“ eine völlig neue Verwaltungsinstitution gegründet wurde, bei der tatsächlich alles zusammenlaufe, das mit dem Verkehr in der Stadt zu tun hat.
Wie aber kommt man zu solchen neuen, integrativen Strukturen? Andreas Hofer, Intendant der Internationalen Bauausstellung 2027 Stadtregion Stuttgart, ist überzeugt davon, dass Sonderformate wie eine IBA etwas in dieser Richtung bewegen können. Mit dem Mandat im Rücken, das einem von der Politik dafür einmal erteilt worden ist, lassen sich neue Formen der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren vermutlich tatsächlich relativ gefahrlos testen. Um sie, wenn sie erfolgreich sind, in den Planungssalltag zu übernehmen. Überhaupt Experimente: Sei es Barbara Steiner, Leiterin des Kunsthauses Graz, die über Chancen und Tücken der Beteiligung von Künstlern bei Partizipationsprozessen sprach, sei es Hedwig Fijen, Gründungsdirektorin der Manifesta, die die Herausforderungen für eine Kunstbiennale skizzierte, wenn sie zum Stadtentwicklungsakteur wird, sei es Maarten Gielen von Rotor aus Brüssel, der von den Fallstricken bei der Wiederverwertung von Architektur berichtete – bei fast allen Referenten schwang mit, dass es unablässig sein wird, Dinge auszuprobieren. Ohne die Sicherheit zu haben, dass das Experiment gelingt.
Versuche mit offenem Ausgang seien nun nicht gerade die Stärke der deutschen Planungskultur, konstatierte Martin Rein-Cano, Landschaftsarchitekt und Gründer von Topotek 1. Dabei läge in der Fähigkeit, Scheitern als Möglichkeit zuzulassen, eine enorme Qualität. Mit Samuel Beckett versuchte er, die Lust daran zu wecken: „Stets versucht. Stets gescheitert. Egal. Nochmal versucht. Wieder gescheitert. Besser gescheitert.“
Neue Verwaltungsstrukturen, neue Entscheidungsprozesse werden also gebraucht, um den Zusammenhalt des Organismus Stadt zu erhalten. Was aber haben Architekten und Stadtplaner – außer dass sie bei ihrer täglichen Arbeit die dringende Notwendigkeit derartiger Reformen vor Augen geführt bekommen und sie einfordern müssen – in Zukunft für einen Einfluss? Einen ganz entscheidenden, findet Andreas Garkisch, Partner bei 03 Architekten in München, schließlich nehme die Bedeutung qualitätsvoller öffentlicher Räume für die Stadt keinesfalls ab, im Gegenteil. Unter der Überschrift „Die erfahrene Stadt“ schließlich brach Andreas Hild eine Lanze für den Bestand. Um die Menschen mit der Geschwindigkeit des Wandels nicht weiter zu überfordern, müsse Stadt langsamer werden. Sie müsse sich nicht ständig neu erfinden, sondern sich evolutionär verwandeln.